Leben in der Coronakrise (Kurzgeschichte)
Mein Wecker klingelt. Ich muss aufstehen, Aufgaben machen. Zuerst mein Frühstück allein in der Stille genießen. Dann noch im Halbschlaf an den Schreibtisch. Keine Blätter, keine Stifte, keine Mappen. Nur mein Laptop und ich.
Ich schaue in mein Aufgabenmodul. „Hallo Elisabeth! Sie haben sieben offene Aufgaben.“, überbringt mir die Startseite freundlich. Eine von letzter Woche, vier bis Freitag, zwei für die kommenden zwei Wochen. Zwei weitere kriegen wir Freitag. Wie jeden Montag starte ich mit den Deutschaufgaben.
Plötzlich klingelt mein Handy. „Kommst du zu Deutsch?“, fragt Svetlana. Ich schaue auf die Uhr. 08:04 Uhr. „Oh ja, sofort. Sag bitte, dass ich Internetprobleme hatte“, sage ich. „Gut, mache ich. Bis gleich“, antwortet sie. Nun öffne ich den Zoomlink und warte. Eigentlich nur zwei Minuten, aber doch eine Ewigkeit. Da erscheint auch schon mein Deutschlehrer. Mal wieder der Einzige, der seine Kamera eingeschaltet hatte. „Ach was soll’s, ich kann ja die Kamera für die ersten fünf Minuten auch anmachen“, spreche ich zu mir selbst. Als er mich sieht, begrüßt er mich noch einmal persönlich. Daraufhin winke ich freundlich in die Kamera. Ein paar Minuten vergehen und mein Blick fällt auf mein Handy. Meine Kamera schalte ich wieder aus, um es zu nehmen.
– Schickst du mir die Französischhausaufgaben, wenn du fertig bist? schreibe ich Svetlana.
– Kann ich machen! schreibt sie mir zurück.
Ein paar Mal melde ich mich und sage einfach irgendwas, was mir gerade einfällt.
Der Matheunterricht verläuft auch nicht anders. Nur einmal in der Woche habe ich praktischen Unterricht, den Klavierunterricht, was die Woche aber nicht aufregender gestaltet.
Vor der Coronakrise machte mir der Unterricht Spaß, doch nun habe ich keine Zeit, um Klavier privat zu üben. Also verläuft die Klavierstunde auch nicht besonders spaßig. Wie eigentlich jedes Mal. Zu Hause angekommen, setze ich mich wieder an den Laptop und damit auch an meine Deutschaufgaben.
Mein Handy klingelt. Es war Joyce: „Moin, hast du Bock mit den Hunden raus zu gehen?“ „Ne sorry, muss Aufgaben machen. Du weißt ja, es ist Montag, neue Aufgaben, blabla“, antworte ich ironisch. „Ach so, stimmt. Naja, meld‘ dich, wenn du Zeit hast!“, sagt sie enttäuscht. „Ja mach‘ ich, bis dann“, sage ich und lege auf. Als ob ich irgendwann unter der Woche Zeit hätte. Wochenenden halte ich frei, indem ich Montag bis Freitag durcharbeite.
Als ich mit Deutsch fertig bin, sind es nur noch sechs Aufgaben. In meinem Kopf überlege ich, wie ich meine Aufgaben strukturiert abarbeiten will. Unterbrochen wurde ich von meinem Magengrummeln. Mittlerweile 17:27 Uhr. „Wieso brauche ich nur so lange für meine Aufgaben?“, frage ich mich. Im Grunde verschwende ich sowieso nur meine Zeit.
Und immer noch ist keiner zu Hause außer mir, also muss ich mir selber was zu essen kochen. Auf dem Weg zur Küche sehe ich aus dem Fenster eine kleine Frau. Handtasche und Einkaufstüte, über dem Gesicht eine blaue Mund-Nasenschutzmaske. ,,Naja, wenn sie will, kann sie die tragen“, sage ich zu mir.
Auf dem Küchentisch eine Tütensuppe. Ich fülle Wasser in einen Kochtopf und warte, bis es kocht. Kurz lege ich mich auf mein Bett und schließe die Augen. Kurz habe ich mir die Zeit genommen, dem langweiligen Alltag zu entfliehen. Kurz kann ich dem Druck entfliehen, alles bis Freitag erledigen zu müssen. Kurz, nur kurz, will ich mich entspannen. Aber es geht nicht. In meinem Kopf ist ein kleiner Mensch, der mir bei jeder meiner Pausen sagt, dass ich noch Aufgaben habe. Ein Virus hat mir gezeigt, wie schlecht das deutsche Schulsystem ist. Ich bin sicher nicht die Einzige, die so denkt. Aber andere kann ich ja nicht fragen, ich darf ja nicht mehr als eine Person aus einem Haushalt treffen. Aber dafür in das Haus, in welcher sich die ganze Familie befinden kann, da darf ich rein. Doch wenn ich alleine bin, darf die Familie mein Haus nicht betreten. Dies ist verboten. „Wer stellt denn diese dummen Regeln auf? Es kann doch nicht sein, dass ich als Schülerin, mir mehr Gedanken darüber mache, als manche Politiker!“, fluche ich. „Denen kann es ja egal sein. Sie müssen ja nicht die lächerlichen Strukturen des Schulsystems ertragen. Jeden Tag das Gleiche, jeden Tag stehe ich auf und starre in meinen Laptop. Jeden Tag verschwende ich meine Zeit. Nur damit ich später Papiere habe, auf welchen steht, dass ich mal gut abgeschnitten habe. Ein hässliches Stück Papier, was aber wichtig für meine Zukunft ist. Keine Motivation, keine Kraft. Hätte ich keine Freunde, wäre meine warmherzige Mutter nicht, hätte ich meine Lebenslust schon verloren.“
Ich öffne meine Augen und spüre, wie mir Tränen über das Gesicht kullern. Beim Blick in den Spiegel erschrecke ich kurz vor meinem roten Gesicht. Verweint gehe ich in die Küche und sehe das Wasser kochen. Meine Augen brennen leicht, doch mein Gesicht verziehe ich nicht. Das wäre nun zu anstrengend gewesen, keine Kraft dafür. Den Tüteninhalt eingerührt wasche ich mir mein Gesicht mit kaltem Wasser. Nun halte ich es über den Topf und genieße kurz die Wärme des Wasserdampfes. Wieder gehe ich rüber zu meinem Laptop. Schließlich sehe ich mir meine Mails an. Eine von meinem Politiklehrer, welche ich ignoriere. Die Zweite kommt von unserer Direktorin. Kurz überflogen bekomme ich mit, dass die Schule nächste Woche wieder beginnen soll.
Dies wird ein neuer Alltag sein, ein ganz neues Konzept. Ich werde wieder alte Freunde sehen, ihnen ins Gesicht schauen können. Ich werde wieder mit ihnen reden können. Ich werde meine Lehrer fragen können, falls ich etwas nicht verstehe. Ich werde meine Pausen auf dem Schulhof verbringen. Ich werde mein Essen mit Freunden genießen können. Aber lächeln tue ich nicht, keine Kraft dafür. Eigentlich sollte es mich freuen, aber aus irgendeinem Grund, will ich wie gewohnt zu Hause bleiben.
Verfasser: Elisabeth Kugele (9G2)
Bild: Pixxabay